Lübbe-Wolff: Richtige Entscheidung ist das Ergebnis vernünftiger Argumentation
Moderation: Susanne Führer und Gudula Geuther
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- Die Verfassungsrichter Gertrude Lübbe-Wolff, Winfried Hassemer und Rudolf Mellinghoff (von links) (AP)
Gertrud Lübbe-Wolff ist eine
Verfassungsrichterin, die in den großen Verfahren häufig eine
abweichende Meinung von der Mehrheit ihrer Richterkollegen hat. Ihrer
Ansicht nach stärkt es die "Rationalität des ganzen Verfahrens", wenn
alle Argumente "offen auf dem Tisch liegen".
Deutschlandradio Kultur: Frau
Lübbe-Wolff, Sie sind ja jetzt seit drei Jahren Verfassungsrichterin und
fallen seitdem, das kann man, glaube ich, schon so sagen, eigentlich
regelmäßig auf, weil Sie recht häufig in den großen Verfahren eine
abweichende Meinung von der Mehrheit Ihrer Richterkollegen vertreten,
also ein so genanntes Sondervotum auch veröffentlichen. Solche
Sondervoten galten ja früher als die große Ausnahme, das Gericht sollte
damals mit einer Stimme sprechen, Sie sehen das ja offensichtlich
anders, Sie haben Ihren eigenen Kopf und Sie machen das auch bekannt.
Warum?
Lübbe-Wolff: Weil ich in diesem Punkt mehr an das amerikanische Grundverständnis glaube. Beim höchsten Gericht der USA, beim Supreme Court, ist das vollkommen üblich. Das beruht auf dem Verständnis, dass man nicht so zu tun hat, als hinge da eine Wahrheit im Himmel, die irgendjemand oder ein Kollektiv jetzt herunterholt, sondern dass die richtige Entscheidung ein Ergebnis vernünftiger Argumentation sein muss, und dass es die Rationalität des ganzen Verfahrens stärkt, wenn die Argumente offen auf dem Tisch liegen, die dafür oder dagegen gesprochen haben.
Deutschlandradio Kultur: Glauben Sie, das ist auch jemanden zu vermitteln, der nur so mal aus der Zeitung eine Entscheidung mitbekommt für Laien, für Nichtjuristen, kann das ja auch bisweilen verwirrend sein, vor allem wenn Entscheidungen sehr knapp ausgehen, dass selbst die höchsten Richter Dinge so oder auch ganz anders sehen können? Ist das auch eine Frage, die an die Autorität des Gerichts heranreicht?
Lübbe-Wolff: Ja, wenn man davon ausgeht - und diese Neigung gibt es wohl in Deutschland ein wenig - dass ein Verfassungsgericht Autorität nur dann hat oder nur deshalb haben sollte, weil es eben diese Wahrheit im Himmel gibt, die es nur herunterholt. Von dieser Prämisse ausgehend muss man natürlich sagen, es ist ein Angriff auf die Autorität des Gerichts, wenn Sondervoten geschrieben werden. Ich denke aber, es ist eine für die moderne Welt überhaupt nicht mehr zukunftsfähige Grundhaltung, an Autoritäten nur glauben zu wollen, wenn die sich verkaufen können als welche, die sozusagen etwas übermenschlich Feststehendes nur zu Protokoll geben, und nicht als Menschen, die versucht haben, nach bestem Wissen und Gewissen und nach Maßstäben, die ihnen vorgegeben sind, das Richtige zu tun. Ich hätte Interesse daran, diese zweite Haltung zu fördern. Ich glaube übrigens auch, das Sondervotum hat eine gute Funktion für die, die unterlegen sind. Es kann doch auch etwas Befriedendes haben, wenn die Seite, die unterlegen ist erfährt, aha, das war also jetzt nicht einfach nur abwegig, was ich mir da ausgedacht habe, und mein Gefühl von dem, was gerecht ist, nicht einfach nur falsch, sondern man kann das auch so sehen wie ich. Insofern denke ich, hat das Sondervotum eine gute Funktion.
Es ist die Frage, welche Argumentation sich letztlich im Gericht bei der Mehrheit hat durchsetzen können. Das ist nicht mathematisch vorausberechenbar, und ich denke,, es ist gut, wenn die Bürger das auch wissen. Die Autorität des Gerichts sollte nicht daran hängen, ob ihre Entscheidungen so erscheinen als gäbe es dazu gar keine andere Alternative. Sondern sie sollte daran hängen, dass die Entscheidungen so wie sie begründet sind überzeugen können, und auch an der Akzeptanz der Spielregel. Man muss einfach wissen: es gibt Fragen, die muss irgendjemand am Ende entscheiden. Es ist nicht gut, wenn die unmittelbar Interessierten sie entscheiden, dass also zum Beispiel der Bund, wenn er sich mit den Ländern streitet, immer selbst das letzte Wort hat. Also hat man eine Instanz geschaffen, die in solchen Fragen nach rechtlichen Maßstäben als letzte entscheidet. Und dann ist die Spielregel, auch wenn es knapp ausgegangen ist: die hat nun das letzte Wort. Dafür, dass wir das letzte Wort haben, ist unsere Macht in anderer Hinsicht begrenzt. Richter dürfen zum Beispiel nur reden, wenn sie gefragt worden sind, das ist ja auch eine Einschränkung. Man kann das als ein Gewaltenteilungssystem verstehen.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt haben Sie ja bei Ihren Sondervoten nicht einfach immer nur eine andere Meinung, sondern haben bei einigen davon ja auch richtig eine bestimmte Linie, die dahin geht, dass Sie versuchen, die Sphäre des Bundesverfassungsgerichts auf der einen Seite und der Politik auf der anderen Seite zu trennen. Das könnte man, wenn man will, ein bisschen in dieser Neuwahl-Entscheidung sehen oder auch in einem Sondervotum zur Bodenreform und anderen. Wenn mein Eindruck da so richtig ist, warum ist das so?
Lübbe-Wolff: Ich denke, ein Verfassungsgericht sollte der Politik nur Vorgaben machen, die sich tatsächlich aus der Verfassung ergeben. Im Einzelfall kann man sich natürlich dann immer streiten, was ergibt sich jetzt aus der Verfassung und was nicht. Das ist ja nicht immer völlig klar, deswegen werden die Fälle zu uns getragen. Aber ich plädiere tendenziell für Zurückhaltung des Gerichts, denn es muss auch noch eine Sphäre geben, wo der demokratisch gewählte Gesetzgeber und die von ihm bestellten anderen Staatsorgane entscheiden.
Deutschlandradio Kultur: Als Sie angetreten sind, als Verfassungsrichterin, sind Sie ja gefragt worden, da haben Sie gesagt, Sie wollen, haben den festen Vorsatz, am Verfassungsgericht keine Politik zu machen. Ihre Vorgängerin im Richteramt, Jutta Limbach, hat immer gesagt, das geht nicht, das Verfassungsgericht ist eine politische Instanz. Müssten Sie nicht eigentlich jetzt sagen, nach drei Jahren in Karlsruhe, Frau Limbach hatte Recht? Denn gerade jetzt auch die Entscheidung mit den Neuwahlen, Sie sind ja überstimmt worden, ging ja im Kern um die Frage, Kanzler oder Parlamentsdemokratie, und das ist ja eine eminent politische Frage.
Lübbe-Wolff: Ich habe da, glaube ich, keinen Dissens mit Frau Limbach. Wir sind da wohl gar nicht verschiedener Meinung in der Sache, sondern benutzen vielleicht das Wort "politisch" nur verschieden. Politisch in dem Sinne, dass wir frei wären, Politik zu machen, ist dieses Amt nicht. Es ist natürlich politisch in dem Sinne, dass wir über Fragen entscheiden, die politisch von großer Bedeutung sind. Wir müssen aber versuchen, das nach rechtlichen Maßstäben zu tun. Nun sind diese Maßstäbe nicht immer völlig klar, und deswegen läuft es häufig darauf hinaus - dass auch persönliche Überzeugungen eine Rolle spielen, neben dem Verfassungstext als solchem.
Deutschlandradio Kultur: Wenn ich es richtig verstanden habe, würden Sie in häufigen Fällen am liebsten gar nicht entscheiden und sagen, 'hier, Politiker, entscheidet ihr'.
Lübbe-Wolff: Gar nicht entscheiden können wir ja gar nicht. Wir müssen ja immer der Partei die uns anruft, Recht geben oder ihr nicht Recht geben. In diesem Sinne können wir nicht sagen, wir entscheiden gar nicht. Mein Anliegen ist: wir sollen nicht versuchen, rechtliche Maßstäbe aufzustellen, deren Einhaltung wir gar nicht wirklich kontrollieren können; wir sollen auch nicht zu vage Maßstäbe aufstellen, die nur immer zu Streitigkeiten führen. Und wir sollen in Fragen, wo sehr zweifelhaft ist, was die Verfassung überhaupt gemeint hat, im Zweifel doch lieber den Gesetzgeber das machen lassen, was er für richtig gehalten hat.
Das sind im Grunde ja alles nur Tendenzaussagen. Ich stehe nicht für den 'gestaltungsfreudigen Richter', der sagt, 'wunderbar, jetzt bin ich endlich mal an einer Stelle, da kann ich meine Vorstellungen von der Steuerpolitik und meine Vorstellungen von der Familienpolitik mal so richtig an wirksamer Stelle zum Ausdruck bringen, nicht nur immer wie vorher in Büchern oder Artikeln'. Das wäre nicht meine Grundposition. Wie sich solche Grundpositionen dann in einzelnen Entscheidungen auswirken, wie gesagt, das ist immer eine Frage. Es gibt keinen mathematischen Maßstab dafür, wann man in einer Entscheidung zu gestaltungsfreudig gewesen ist oder nicht.
Deutschlandradio Kultur: Aber es scheint ja doch so, dass Sie, was man eben daran merkt, dass Sie gerade in der Richtung einige Sondervoten veröffentlicht haben, dass Sie da öfter zu mehr Zurückhaltung neigen als manche Kollegen. Besteht denn eine besondere Gefahr für das Bundesverfassungsgericht, die Versuchung, viel an sich zu ziehen oder eben diese Gestaltungsfreude besonders weitgehend auszuüben?
Lübbe-Wolff: Ich denke, es gibt vom institutionellen Design her betrachtet für jede Institution, die niemanden mehr über sich hat, der sie korrigieren kann, eine gewisse Versuchung, diese Möglichkeit zu nutzen. Das ist, glaube ich, einfach menschlich und dieser Versuchung muss man versuchen, argumentativ und jeder mit seinem persönlichen Ethos entgegenzuwirken,. Es gibt natürlich auch noch etwas anderes, was ihr entgegenwirkt. Das Gericht ist ja nicht einfach mächtig. Wenn ihm nicht gehorcht wird, hat es keine Polizeikräfte, keine Truppen, die es irgendwohin schicken und Gehorsam erzwingen kann, sondern es ist letztlich auf Zustimmung und Vertrauen der Bürger angewiesen. Denn nur, wenn die Bürger dem Gericht zustimmen und vertrauen, haben die Politiker auch ein Motiv und werden sich auf die Dauer veranlasst fühlen, die Sprüche dieses Gerichts ernst zu nehmen. Wir wissen das, und das ist, auch eine Form von Kontrolle, die vor der Uferlosigkeit, die jedem droht, der eine nicht mehr kontrollierbare Macht ausübt, bewahrt.
Deutschlandradio Kultur: Ich hatte vorhin gesagt, am liebsten würden Sie gar nicht entscheiden, das war natürlich etwas salopp ausgedrückt, meinte konkreter zum einen, dass sie ja zum Beispiel, als es um die Bodenreform ging, Ihren Kollegen vorgeworfen haben, ich zitiere: 'Der Senat antwortet auf Fragen, die da fallen, nicht aufwirft' also Ihnen eigentlich vorgeworfen haben, mehr zu entscheiden als Sie gefragt worden sind. Und zum anderen gibt es ja auch immer wieder Stimmen von Richtern, wo man hört, dass sie eigentlich einigermaßen verärgert sind, dass sie etwas entscheiden müssen wie hier zum Beispiel das NPD-Verbot, das hätte das Bundesverfassungsgericht vielleicht, wenn es gekonnt hätte, am liebsten gar nicht angenommen, musste aber eben darüber verhandeln. Bei diesem Stichwort Politik teilen Sie auch die Kritik, dass immer wieder gesagt wird, dass die Politiker es sich zu leicht machen und anstatt anständige Gesetze zu machen, lieber erst mal nach Karlsruhe gehen?
Lübbe-Wolff: Nein, überhaupt nicht. Ich glaube, es hängt sehr wesentlich am Verhalten des Gerichts selber, ob es ein solches Verhalten ermutigt oder nicht. Wenn Politiker auf schön viele Vorgaben aus Karlsruhe sozusagen warten und es darauf anlegen, dann brauchen sie natürlich auch ein Gericht, was ihnen schön viele Vorgaben macht. Der Normalfall ist aber ja einfach der: es entsteht ein Streit über eine Frage, auf die die Antwort, die juristische, nicht völlig evident ist. Darf man den Untersuchungsausschuss jetzt vorzeitig beenden? Durfte man die Vertrauensfrage in dieser Situation so stellen und so beantworten, wie sie gestellt und beantwortet worden ist? Was soll man da anderes machen, wenn es ein Gericht gibt und man ist sich nicht einig, als dieses Gericht fragen, wie wäre es denn nun richtig gewesen? Und da haben wir uns auch nicht zu beschweren, wenn uns Fälle angetragen werden, egal welcher Art. Das ist das Geschäft und das gehört dazu. Ein ganz wichtiger Punkt für die Rechtsprechung ist aber die richterliche Zurückhaltung die darin besteht, dass man auf die Frage antwortet, die gestellt worden ist, und nicht die Gelegenheit benutzt, um noch alles mögliche andere loszuwerden, was man immer schon mal gerne sagen wollte.
Deutschlandradio Kultur: Habe ich Sie richtig verstanden, dass das Ihrer Ansicht nach nicht immer passiert?
Lübbe-Wolff: Nee, das habe ich ja in dem, Sondervotum zur Entscheidung in Sachen Bodenreform, das sie gerade zitiert haben, deutlich zum Ausdruck gebracht. Und das ist natürlich nicht der einzige Fall; es ist immer schon ein bisschen Stil des Bundesverfassungsgerichts gewesen, so etwas leicht philosophisch sich über den Fall Erhebendes.
Deutschlandradio Kultur: Die Fälle, über die wir jetzt gesprochen haben, das sind ja überwiegend eben die großen politischen Verfahren, die dann auch eher in Form der Organklage zum Beispiel an das Gericht kommt. Das ist ja nur eigentlich in der Zahl der Eingänge ein ganz kleiner Teil der Verfahren, die an das Verfassungsgericht kommen. Wir haben ja in Deutschland die Verfassungsbeschwerde, also die Regelung, dass jeder, der sich in seinen Grundrechten durch die öffentliche Gewalt verletzt sieht, sich eben an das Bundesverfassungsgericht wenden kann. Für manche ist das richtig das Kronjuwel der Verfassung und auf der anderen Seite von 5000 Bürgern, die im Jahr davon Gebrauch machen, haben gerade ein bis zwei Prozent Erfolg. Sind die anderen 98 Prozent dann alle Spinner?
Lübbe-Wolff: Nein, die sind auf gar keinen Fall alle Spinner, da sind natürlich viele Fragen dabei, über die man sich streiten kann. Es gibt einen gewissen Anteil von offensichtlich querulatorischen Beschwerden, das kann man sagen. Aber das ist natürlich nicht das Typische. Es gibt leider auch eine ganze Reihe von Beschwerden, die daran scheitern, dass die Kläger nicht hinreichend genau die verfahrensrechtlichen Anforderungen kennen und deshalb die Anträge unzulässig sind. Das ist ein Problem.
Deutschlandradio Kultur: Sind die zu kompliziert, die verfahrensrechtlichen Anforderungen?
Lübbe-Wolff: Ich würde vielleicht nicht mal sagen, dass sie zu kompliziert sind. Das Problem ist, sie sind aus dem Gesetz nicht erkennbar, weil sie zum Teil erst vom Gericht in Konkretisierung des Gesetzes entwickelt worden sind.
Deutschlandradio Kultur: Man kann sie als einfacher Bürger sozusagen gar nicht mal eben wo nachschlagen?
Lübbe-Wolff: Eben, genau. Jedenfalls als einfachem Bürger, der nicht juristische Kommentare zu lesen gewohnt ist, ist einem das nicht zugänglich. Wenn man das Bundesverfassungsgerichtsgesetz aufschlägt, da steht nur, man muss den Hoheitsakt benennen, durch den man sich verletzt fühlt, und sagen, in welchem Grundrecht man sich verletzt fühlt. Tatsächlich reicht das aber nicht, sondern es gibt eine ganze Reihe weiterer Anforderungen, die in Konkretisierung der gesetzlichen Vorschriften entwickelt worden sind. Die sind für den Bürger schwer zu handhaben, wenn er nicht anwaltlich vertreten ist. Und das muss er ja nach unserer Verfahrensordnung nicht sein, er sollte also auch ohne Anwalt diesen Rechtsbehelf erfolgreich nutzen können.
Deutschlandradio Kultur: Jedermann, heißt es in dem entsprechenden Gesetz, hat das Recht, Verfassungsbeschwerde einzulegen, erfolgreich sind aber wie gesagt nur diese ein bis zwei Prozent und die Ablehnungen werden sogar in dreiviertel aller Fälle ohne irgend eine schriftliche Begründung erteilt. Also ich erhalte dann einen Brief, da steht dann drin, 'die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen'. Punkt. Der Bürger kann ja die Entscheidung nicht mal nachvollziehen, also geschweige denn anfechten. Man kann dann ja nichts mehr tun.
Lübbe-Wolff: Also wenn ich zu dem Prozentsatz der erfolgreichen Beschwerden noch etwas sagen darf: wie gesagt, ich bedauere, dass die Zulässigkeitsanforderungen relativ kompliziert und deswegen für viele Leute nicht mehr gut 'handlebar' sind. Das ist ein Problem. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass die ganzen 98 Prozent, die keinen Erfolg haben, an diesen Zulässigkeitshürden oder nur an diesen gescheitert sind sondern es gibt auch sehr viele Gerichtsentscheidungen, die angegriffen werden, die aber tatsächlich verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind. Das heißt, sehr viele - ich würde denken, der weitaus größte Teil derer, die verlieren - verlieren auch in der Sache zu Recht und nicht nur wegen der Zulässigkeitsanforderungen.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem scheint es ja doch noch ein größeres Problem zu sein, es ist ja wohl auch so, dass von denen, die nicht anwaltlich vertreten sind, was, wie Sie gesagt haben, ja eben gerade nicht Voraussetzung sein sollen. Gerade, um mal noch eine Zahl zu denen, die 01, Prozent Erfolg haben: Müsste man da nicht eigentlich etwas verändern oder auch möglicherweise ehrlicher sagen, das ist entweder zu hoch geschraubt oder wir müssten einfach sonst sagen, wir müssen das System ändern und müssen nicht mehr über alle Verfassungsbeschwerden entscheiden, die da rein kommen, weil wir offensichtlich uns doch nur einen relativ kleinen Teil dann rausnehmen?
Lübbe-Wolff: Ich plädiere für eine etwas großzügigere Handhabung der Zulässigkeitsvoraussetzungen, so dass der Bürger darüber nicht so leicht stolpert. Die andere Frage: müssen wir das System ändern, weil es ohnehin zu viele Verfassungsbeschwerden sind? Also die scheitern nicht daran, dass sie nicht angeguckt werden. Auch die große Anzahl der Beschwerden, bei denen wir keine Begründung geben, - das bedeutet nicht, dass die nicht geprüft worden sind. Die sind sorgfältig geprüft worden. Es spart uns aber sehr viel Arbeit, wenn wir nicht alle Entscheidungen begründen müssen, weil man sich auf diese Weise nicht in der Kammer zwischen den Richtern noch über den Text der Begründung, über den ja auch wieder Meinungsverschiedenheiten bestehen können, einigen muss. Nur so ist es aber uns überhaupt möglich, diese große Zahl von über fünfeinhalb Tausend Verfassungsbeschwerden zu bewältigen.
Deutschlandradio Kultur: Das ist jetzt eine Begründung der Praktikabilität, aber um Frau Geuthers Frage noch mal aufzunehmen: was in den USA ja gilt, dass die Richter sich im Grunde genommen die Verfassungsbeschwerden nach freiem Ermessen aussuchen, die sie behandeln sollen. Wäre das nicht offener und ehrlicher, das auch in Deutschland so zu handhaben?
Lübbe-Wolff: Das hat alles seine Vor- und Nachteile und ich würde letztlich im Vergleich doch unser System für in einer wichtigen Hinsicht vorteilhaft halten. Sie können in Amerika nicht zum Beispiel als kleiner Häftling in einer Strafanstalt, der sich beschwert fühlt durch das Essen, das er kriegt, oder durch die Aufschlusszeiten, sich an das Verfassungsgericht wenden. Da brauchen Sie einen Anwalt, der Ihnen genau bemessene Schriftsätze auf vorgegebenem Papier mit vorgegebenen Begründungsschritten macht und so weiter. Und dass das bei uns möglich ist, das ist wichtig sowohl für das Vertrauen der Bürger in die Verfassung als auch für die Rechtskultur im Ganzen. Es passiert ja immer wieder, dass eben zum Beispiel auch die Verfassungsbeschwerde des armen, mittellosen Strafgefangenen, Asylbewerbers und so weiter Erfolg hat. Das passiert ja immer wieder, wenn auch nicht so häufig wie man sich vielleicht wünschen würde, aber es passiert immer wieder. In einem Rechtsystem, das muss man auch sehen, das insgesamt dazu tendiert, aufgrund der Verknappung der Ressourcen für Unbemittelte schwerer zugänglich zu werden - weniger Instanzen, erhöhte Zulässigkeitsanforderungen bei allen Gerichten, nicht nur beim Bundesverfassungsgericht - gerade in einem solchen System denke ich, ist es gut, wenn das Verfassungsgericht eine Art Überblick über die Krankheiten des Rechtsystems gewinnt und versuchen kann, an der einen oder anderen Stelle kurierend einzugreifen.
Gertrude Lübbe-Wolff wird am 31. Januar 1953 in Weitensfeld/Kärnten geboren. 1969, mit 16 Jahren, beginnt sie das Studium der Rechtswissenschaften in Bielefeld, Freiburg und an der Harvard Law School (LLM). 1980 Promotion in Freiburg. 1979 bis 1987 wissenschaftliche Assistentin in Bielefeld, 1987 Habilitation eben dort für die Fächer öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte der Neuzeit und Rechtsphilosophie. 1988 - 1992 Leiterin des Wasserschutzamtes in Bielefeld. Seit 1992 Professorin für Öffentliches Recht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bielefeld. Im Jahre 2000 wird Lübbe-Wolff mit dem Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem höchstdotierten deutschen Wissenschaftspreis, ausgezeichnet. Seit April 2002 gehört Lübbe-Wolff dem zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts an. Sie ist verheiratet und hat vier Kinder.
Lübbe-Wolff: Weil ich in diesem Punkt mehr an das amerikanische Grundverständnis glaube. Beim höchsten Gericht der USA, beim Supreme Court, ist das vollkommen üblich. Das beruht auf dem Verständnis, dass man nicht so zu tun hat, als hinge da eine Wahrheit im Himmel, die irgendjemand oder ein Kollektiv jetzt herunterholt, sondern dass die richtige Entscheidung ein Ergebnis vernünftiger Argumentation sein muss, und dass es die Rationalität des ganzen Verfahrens stärkt, wenn die Argumente offen auf dem Tisch liegen, die dafür oder dagegen gesprochen haben.
Deutschlandradio Kultur: Glauben Sie, das ist auch jemanden zu vermitteln, der nur so mal aus der Zeitung eine Entscheidung mitbekommt für Laien, für Nichtjuristen, kann das ja auch bisweilen verwirrend sein, vor allem wenn Entscheidungen sehr knapp ausgehen, dass selbst die höchsten Richter Dinge so oder auch ganz anders sehen können? Ist das auch eine Frage, die an die Autorität des Gerichts heranreicht?
Lübbe-Wolff: Ja, wenn man davon ausgeht - und diese Neigung gibt es wohl in Deutschland ein wenig - dass ein Verfassungsgericht Autorität nur dann hat oder nur deshalb haben sollte, weil es eben diese Wahrheit im Himmel gibt, die es nur herunterholt. Von dieser Prämisse ausgehend muss man natürlich sagen, es ist ein Angriff auf die Autorität des Gerichts, wenn Sondervoten geschrieben werden. Ich denke aber, es ist eine für die moderne Welt überhaupt nicht mehr zukunftsfähige Grundhaltung, an Autoritäten nur glauben zu wollen, wenn die sich verkaufen können als welche, die sozusagen etwas übermenschlich Feststehendes nur zu Protokoll geben, und nicht als Menschen, die versucht haben, nach bestem Wissen und Gewissen und nach Maßstäben, die ihnen vorgegeben sind, das Richtige zu tun. Ich hätte Interesse daran, diese zweite Haltung zu fördern. Ich glaube übrigens auch, das Sondervotum hat eine gute Funktion für die, die unterlegen sind. Es kann doch auch etwas Befriedendes haben, wenn die Seite, die unterlegen ist erfährt, aha, das war also jetzt nicht einfach nur abwegig, was ich mir da ausgedacht habe, und mein Gefühl von dem, was gerecht ist, nicht einfach nur falsch, sondern man kann das auch so sehen wie ich. Insofern denke ich, hat das Sondervotum eine gute Funktion.
Es ist die Frage, welche Argumentation sich letztlich im Gericht bei der Mehrheit hat durchsetzen können. Das ist nicht mathematisch vorausberechenbar, und ich denke,, es ist gut, wenn die Bürger das auch wissen. Die Autorität des Gerichts sollte nicht daran hängen, ob ihre Entscheidungen so erscheinen als gäbe es dazu gar keine andere Alternative. Sondern sie sollte daran hängen, dass die Entscheidungen so wie sie begründet sind überzeugen können, und auch an der Akzeptanz der Spielregel. Man muss einfach wissen: es gibt Fragen, die muss irgendjemand am Ende entscheiden. Es ist nicht gut, wenn die unmittelbar Interessierten sie entscheiden, dass also zum Beispiel der Bund, wenn er sich mit den Ländern streitet, immer selbst das letzte Wort hat. Also hat man eine Instanz geschaffen, die in solchen Fragen nach rechtlichen Maßstäben als letzte entscheidet. Und dann ist die Spielregel, auch wenn es knapp ausgegangen ist: die hat nun das letzte Wort. Dafür, dass wir das letzte Wort haben, ist unsere Macht in anderer Hinsicht begrenzt. Richter dürfen zum Beispiel nur reden, wenn sie gefragt worden sind, das ist ja auch eine Einschränkung. Man kann das als ein Gewaltenteilungssystem verstehen.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt haben Sie ja bei Ihren Sondervoten nicht einfach immer nur eine andere Meinung, sondern haben bei einigen davon ja auch richtig eine bestimmte Linie, die dahin geht, dass Sie versuchen, die Sphäre des Bundesverfassungsgerichts auf der einen Seite und der Politik auf der anderen Seite zu trennen. Das könnte man, wenn man will, ein bisschen in dieser Neuwahl-Entscheidung sehen oder auch in einem Sondervotum zur Bodenreform und anderen. Wenn mein Eindruck da so richtig ist, warum ist das so?
Lübbe-Wolff: Ich denke, ein Verfassungsgericht sollte der Politik nur Vorgaben machen, die sich tatsächlich aus der Verfassung ergeben. Im Einzelfall kann man sich natürlich dann immer streiten, was ergibt sich jetzt aus der Verfassung und was nicht. Das ist ja nicht immer völlig klar, deswegen werden die Fälle zu uns getragen. Aber ich plädiere tendenziell für Zurückhaltung des Gerichts, denn es muss auch noch eine Sphäre geben, wo der demokratisch gewählte Gesetzgeber und die von ihm bestellten anderen Staatsorgane entscheiden.
Deutschlandradio Kultur: Als Sie angetreten sind, als Verfassungsrichterin, sind Sie ja gefragt worden, da haben Sie gesagt, Sie wollen, haben den festen Vorsatz, am Verfassungsgericht keine Politik zu machen. Ihre Vorgängerin im Richteramt, Jutta Limbach, hat immer gesagt, das geht nicht, das Verfassungsgericht ist eine politische Instanz. Müssten Sie nicht eigentlich jetzt sagen, nach drei Jahren in Karlsruhe, Frau Limbach hatte Recht? Denn gerade jetzt auch die Entscheidung mit den Neuwahlen, Sie sind ja überstimmt worden, ging ja im Kern um die Frage, Kanzler oder Parlamentsdemokratie, und das ist ja eine eminent politische Frage.
Lübbe-Wolff: Ich habe da, glaube ich, keinen Dissens mit Frau Limbach. Wir sind da wohl gar nicht verschiedener Meinung in der Sache, sondern benutzen vielleicht das Wort "politisch" nur verschieden. Politisch in dem Sinne, dass wir frei wären, Politik zu machen, ist dieses Amt nicht. Es ist natürlich politisch in dem Sinne, dass wir über Fragen entscheiden, die politisch von großer Bedeutung sind. Wir müssen aber versuchen, das nach rechtlichen Maßstäben zu tun. Nun sind diese Maßstäbe nicht immer völlig klar, und deswegen läuft es häufig darauf hinaus - dass auch persönliche Überzeugungen eine Rolle spielen, neben dem Verfassungstext als solchem.
Deutschlandradio Kultur: Wenn ich es richtig verstanden habe, würden Sie in häufigen Fällen am liebsten gar nicht entscheiden und sagen, 'hier, Politiker, entscheidet ihr'.
Lübbe-Wolff: Gar nicht entscheiden können wir ja gar nicht. Wir müssen ja immer der Partei die uns anruft, Recht geben oder ihr nicht Recht geben. In diesem Sinne können wir nicht sagen, wir entscheiden gar nicht. Mein Anliegen ist: wir sollen nicht versuchen, rechtliche Maßstäbe aufzustellen, deren Einhaltung wir gar nicht wirklich kontrollieren können; wir sollen auch nicht zu vage Maßstäbe aufstellen, die nur immer zu Streitigkeiten führen. Und wir sollen in Fragen, wo sehr zweifelhaft ist, was die Verfassung überhaupt gemeint hat, im Zweifel doch lieber den Gesetzgeber das machen lassen, was er für richtig gehalten hat.
Das sind im Grunde ja alles nur Tendenzaussagen. Ich stehe nicht für den 'gestaltungsfreudigen Richter', der sagt, 'wunderbar, jetzt bin ich endlich mal an einer Stelle, da kann ich meine Vorstellungen von der Steuerpolitik und meine Vorstellungen von der Familienpolitik mal so richtig an wirksamer Stelle zum Ausdruck bringen, nicht nur immer wie vorher in Büchern oder Artikeln'. Das wäre nicht meine Grundposition. Wie sich solche Grundpositionen dann in einzelnen Entscheidungen auswirken, wie gesagt, das ist immer eine Frage. Es gibt keinen mathematischen Maßstab dafür, wann man in einer Entscheidung zu gestaltungsfreudig gewesen ist oder nicht.
Deutschlandradio Kultur: Aber es scheint ja doch so, dass Sie, was man eben daran merkt, dass Sie gerade in der Richtung einige Sondervoten veröffentlicht haben, dass Sie da öfter zu mehr Zurückhaltung neigen als manche Kollegen. Besteht denn eine besondere Gefahr für das Bundesverfassungsgericht, die Versuchung, viel an sich zu ziehen oder eben diese Gestaltungsfreude besonders weitgehend auszuüben?
Lübbe-Wolff: Ich denke, es gibt vom institutionellen Design her betrachtet für jede Institution, die niemanden mehr über sich hat, der sie korrigieren kann, eine gewisse Versuchung, diese Möglichkeit zu nutzen. Das ist, glaube ich, einfach menschlich und dieser Versuchung muss man versuchen, argumentativ und jeder mit seinem persönlichen Ethos entgegenzuwirken,. Es gibt natürlich auch noch etwas anderes, was ihr entgegenwirkt. Das Gericht ist ja nicht einfach mächtig. Wenn ihm nicht gehorcht wird, hat es keine Polizeikräfte, keine Truppen, die es irgendwohin schicken und Gehorsam erzwingen kann, sondern es ist letztlich auf Zustimmung und Vertrauen der Bürger angewiesen. Denn nur, wenn die Bürger dem Gericht zustimmen und vertrauen, haben die Politiker auch ein Motiv und werden sich auf die Dauer veranlasst fühlen, die Sprüche dieses Gerichts ernst zu nehmen. Wir wissen das, und das ist, auch eine Form von Kontrolle, die vor der Uferlosigkeit, die jedem droht, der eine nicht mehr kontrollierbare Macht ausübt, bewahrt.
Deutschlandradio Kultur: Ich hatte vorhin gesagt, am liebsten würden Sie gar nicht entscheiden, das war natürlich etwas salopp ausgedrückt, meinte konkreter zum einen, dass sie ja zum Beispiel, als es um die Bodenreform ging, Ihren Kollegen vorgeworfen haben, ich zitiere: 'Der Senat antwortet auf Fragen, die da fallen, nicht aufwirft' also Ihnen eigentlich vorgeworfen haben, mehr zu entscheiden als Sie gefragt worden sind. Und zum anderen gibt es ja auch immer wieder Stimmen von Richtern, wo man hört, dass sie eigentlich einigermaßen verärgert sind, dass sie etwas entscheiden müssen wie hier zum Beispiel das NPD-Verbot, das hätte das Bundesverfassungsgericht vielleicht, wenn es gekonnt hätte, am liebsten gar nicht angenommen, musste aber eben darüber verhandeln. Bei diesem Stichwort Politik teilen Sie auch die Kritik, dass immer wieder gesagt wird, dass die Politiker es sich zu leicht machen und anstatt anständige Gesetze zu machen, lieber erst mal nach Karlsruhe gehen?
Lübbe-Wolff: Nein, überhaupt nicht. Ich glaube, es hängt sehr wesentlich am Verhalten des Gerichts selber, ob es ein solches Verhalten ermutigt oder nicht. Wenn Politiker auf schön viele Vorgaben aus Karlsruhe sozusagen warten und es darauf anlegen, dann brauchen sie natürlich auch ein Gericht, was ihnen schön viele Vorgaben macht. Der Normalfall ist aber ja einfach der: es entsteht ein Streit über eine Frage, auf die die Antwort, die juristische, nicht völlig evident ist. Darf man den Untersuchungsausschuss jetzt vorzeitig beenden? Durfte man die Vertrauensfrage in dieser Situation so stellen und so beantworten, wie sie gestellt und beantwortet worden ist? Was soll man da anderes machen, wenn es ein Gericht gibt und man ist sich nicht einig, als dieses Gericht fragen, wie wäre es denn nun richtig gewesen? Und da haben wir uns auch nicht zu beschweren, wenn uns Fälle angetragen werden, egal welcher Art. Das ist das Geschäft und das gehört dazu. Ein ganz wichtiger Punkt für die Rechtsprechung ist aber die richterliche Zurückhaltung die darin besteht, dass man auf die Frage antwortet, die gestellt worden ist, und nicht die Gelegenheit benutzt, um noch alles mögliche andere loszuwerden, was man immer schon mal gerne sagen wollte.
Deutschlandradio Kultur: Habe ich Sie richtig verstanden, dass das Ihrer Ansicht nach nicht immer passiert?
Lübbe-Wolff: Nee, das habe ich ja in dem, Sondervotum zur Entscheidung in Sachen Bodenreform, das sie gerade zitiert haben, deutlich zum Ausdruck gebracht. Und das ist natürlich nicht der einzige Fall; es ist immer schon ein bisschen Stil des Bundesverfassungsgerichts gewesen, so etwas leicht philosophisch sich über den Fall Erhebendes.
Deutschlandradio Kultur: Die Fälle, über die wir jetzt gesprochen haben, das sind ja überwiegend eben die großen politischen Verfahren, die dann auch eher in Form der Organklage zum Beispiel an das Gericht kommt. Das ist ja nur eigentlich in der Zahl der Eingänge ein ganz kleiner Teil der Verfahren, die an das Verfassungsgericht kommen. Wir haben ja in Deutschland die Verfassungsbeschwerde, also die Regelung, dass jeder, der sich in seinen Grundrechten durch die öffentliche Gewalt verletzt sieht, sich eben an das Bundesverfassungsgericht wenden kann. Für manche ist das richtig das Kronjuwel der Verfassung und auf der anderen Seite von 5000 Bürgern, die im Jahr davon Gebrauch machen, haben gerade ein bis zwei Prozent Erfolg. Sind die anderen 98 Prozent dann alle Spinner?
Lübbe-Wolff: Nein, die sind auf gar keinen Fall alle Spinner, da sind natürlich viele Fragen dabei, über die man sich streiten kann. Es gibt einen gewissen Anteil von offensichtlich querulatorischen Beschwerden, das kann man sagen. Aber das ist natürlich nicht das Typische. Es gibt leider auch eine ganze Reihe von Beschwerden, die daran scheitern, dass die Kläger nicht hinreichend genau die verfahrensrechtlichen Anforderungen kennen und deshalb die Anträge unzulässig sind. Das ist ein Problem.
Deutschlandradio Kultur: Sind die zu kompliziert, die verfahrensrechtlichen Anforderungen?
Lübbe-Wolff: Ich würde vielleicht nicht mal sagen, dass sie zu kompliziert sind. Das Problem ist, sie sind aus dem Gesetz nicht erkennbar, weil sie zum Teil erst vom Gericht in Konkretisierung des Gesetzes entwickelt worden sind.
Deutschlandradio Kultur: Man kann sie als einfacher Bürger sozusagen gar nicht mal eben wo nachschlagen?
Lübbe-Wolff: Eben, genau. Jedenfalls als einfachem Bürger, der nicht juristische Kommentare zu lesen gewohnt ist, ist einem das nicht zugänglich. Wenn man das Bundesverfassungsgerichtsgesetz aufschlägt, da steht nur, man muss den Hoheitsakt benennen, durch den man sich verletzt fühlt, und sagen, in welchem Grundrecht man sich verletzt fühlt. Tatsächlich reicht das aber nicht, sondern es gibt eine ganze Reihe weiterer Anforderungen, die in Konkretisierung der gesetzlichen Vorschriften entwickelt worden sind. Die sind für den Bürger schwer zu handhaben, wenn er nicht anwaltlich vertreten ist. Und das muss er ja nach unserer Verfahrensordnung nicht sein, er sollte also auch ohne Anwalt diesen Rechtsbehelf erfolgreich nutzen können.
Deutschlandradio Kultur: Jedermann, heißt es in dem entsprechenden Gesetz, hat das Recht, Verfassungsbeschwerde einzulegen, erfolgreich sind aber wie gesagt nur diese ein bis zwei Prozent und die Ablehnungen werden sogar in dreiviertel aller Fälle ohne irgend eine schriftliche Begründung erteilt. Also ich erhalte dann einen Brief, da steht dann drin, 'die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen'. Punkt. Der Bürger kann ja die Entscheidung nicht mal nachvollziehen, also geschweige denn anfechten. Man kann dann ja nichts mehr tun.
Lübbe-Wolff: Also wenn ich zu dem Prozentsatz der erfolgreichen Beschwerden noch etwas sagen darf: wie gesagt, ich bedauere, dass die Zulässigkeitsanforderungen relativ kompliziert und deswegen für viele Leute nicht mehr gut 'handlebar' sind. Das ist ein Problem. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass die ganzen 98 Prozent, die keinen Erfolg haben, an diesen Zulässigkeitshürden oder nur an diesen gescheitert sind sondern es gibt auch sehr viele Gerichtsentscheidungen, die angegriffen werden, die aber tatsächlich verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind. Das heißt, sehr viele - ich würde denken, der weitaus größte Teil derer, die verlieren - verlieren auch in der Sache zu Recht und nicht nur wegen der Zulässigkeitsanforderungen.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem scheint es ja doch noch ein größeres Problem zu sein, es ist ja wohl auch so, dass von denen, die nicht anwaltlich vertreten sind, was, wie Sie gesagt haben, ja eben gerade nicht Voraussetzung sein sollen. Gerade, um mal noch eine Zahl zu denen, die 01, Prozent Erfolg haben: Müsste man da nicht eigentlich etwas verändern oder auch möglicherweise ehrlicher sagen, das ist entweder zu hoch geschraubt oder wir müssten einfach sonst sagen, wir müssen das System ändern und müssen nicht mehr über alle Verfassungsbeschwerden entscheiden, die da rein kommen, weil wir offensichtlich uns doch nur einen relativ kleinen Teil dann rausnehmen?
Lübbe-Wolff: Ich plädiere für eine etwas großzügigere Handhabung der Zulässigkeitsvoraussetzungen, so dass der Bürger darüber nicht so leicht stolpert. Die andere Frage: müssen wir das System ändern, weil es ohnehin zu viele Verfassungsbeschwerden sind? Also die scheitern nicht daran, dass sie nicht angeguckt werden. Auch die große Anzahl der Beschwerden, bei denen wir keine Begründung geben, - das bedeutet nicht, dass die nicht geprüft worden sind. Die sind sorgfältig geprüft worden. Es spart uns aber sehr viel Arbeit, wenn wir nicht alle Entscheidungen begründen müssen, weil man sich auf diese Weise nicht in der Kammer zwischen den Richtern noch über den Text der Begründung, über den ja auch wieder Meinungsverschiedenheiten bestehen können, einigen muss. Nur so ist es aber uns überhaupt möglich, diese große Zahl von über fünfeinhalb Tausend Verfassungsbeschwerden zu bewältigen.
Deutschlandradio Kultur: Das ist jetzt eine Begründung der Praktikabilität, aber um Frau Geuthers Frage noch mal aufzunehmen: was in den USA ja gilt, dass die Richter sich im Grunde genommen die Verfassungsbeschwerden nach freiem Ermessen aussuchen, die sie behandeln sollen. Wäre das nicht offener und ehrlicher, das auch in Deutschland so zu handhaben?
Lübbe-Wolff: Das hat alles seine Vor- und Nachteile und ich würde letztlich im Vergleich doch unser System für in einer wichtigen Hinsicht vorteilhaft halten. Sie können in Amerika nicht zum Beispiel als kleiner Häftling in einer Strafanstalt, der sich beschwert fühlt durch das Essen, das er kriegt, oder durch die Aufschlusszeiten, sich an das Verfassungsgericht wenden. Da brauchen Sie einen Anwalt, der Ihnen genau bemessene Schriftsätze auf vorgegebenem Papier mit vorgegebenen Begründungsschritten macht und so weiter. Und dass das bei uns möglich ist, das ist wichtig sowohl für das Vertrauen der Bürger in die Verfassung als auch für die Rechtskultur im Ganzen. Es passiert ja immer wieder, dass eben zum Beispiel auch die Verfassungsbeschwerde des armen, mittellosen Strafgefangenen, Asylbewerbers und so weiter Erfolg hat. Das passiert ja immer wieder, wenn auch nicht so häufig wie man sich vielleicht wünschen würde, aber es passiert immer wieder. In einem Rechtsystem, das muss man auch sehen, das insgesamt dazu tendiert, aufgrund der Verknappung der Ressourcen für Unbemittelte schwerer zugänglich zu werden - weniger Instanzen, erhöhte Zulässigkeitsanforderungen bei allen Gerichten, nicht nur beim Bundesverfassungsgericht - gerade in einem solchen System denke ich, ist es gut, wenn das Verfassungsgericht eine Art Überblick über die Krankheiten des Rechtsystems gewinnt und versuchen kann, an der einen oder anderen Stelle kurierend einzugreifen.
Gertrude Lübbe-Wolff wird am 31. Januar 1953 in Weitensfeld/Kärnten geboren. 1969, mit 16 Jahren, beginnt sie das Studium der Rechtswissenschaften in Bielefeld, Freiburg und an der Harvard Law School (LLM). 1980 Promotion in Freiburg. 1979 bis 1987 wissenschaftliche Assistentin in Bielefeld, 1987 Habilitation eben dort für die Fächer öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte der Neuzeit und Rechtsphilosophie. 1988 - 1992 Leiterin des Wasserschutzamtes in Bielefeld. Seit 1992 Professorin für Öffentliches Recht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bielefeld. Im Jahre 2000 wird Lübbe-Wolff mit dem Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem höchstdotierten deutschen Wissenschaftspreis, ausgezeichnet. Seit April 2002 gehört Lübbe-Wolff dem zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts an. Sie ist verheiratet und hat vier Kinder.
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