Thursday, 3 April 2014

Abweichende Meinungen der Richterin Lübbe-Wolff

Abweichende Meinung der Richterin Lübbe-Wolff zum Beschluss des Zweiten Senats vom 26. Oktober 2004
-- 2 BvR 955/00, 1038/01 --
Der Senat antwortet auf Fragen, die der Fall nicht aufwirft, mit Verfassungsgrundsätzen, die das Grundgesetz nicht enthält.



ESM/EZB: Urteilsverkündung sowie 
Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union
Abweichende Meinung der Richterin Lübbe-Wolff: 

In dem Bemühen, die Herrschaft des Rechts zu sichern, kann ein Gericht 
die Grenzen richterlicher Kompetenz überschreiten. Das ist meiner 
Meinung nach hier geschehen. Die Anträge hätten als unzulässig 
abgewiesen werden müssen. Die Frage, wie Bundestag und Bundesregierung 
auf eine Verletzung von Souveränitätsrechten der Bundesrepublik 
Deutschland, sei sie kriegerischer oder nicht kriegerischer Art, zu 
reagieren haben, ist nicht sinnvoll im Sinne der Auferlegung bestimmter 
positiver Handlungspflichten verregelbar. Die Auswahl zwischen den 
vielfältigen Möglichkeiten der Reaktion, die von bloßen 
Missfallensbekundungen bis hin zum Austritt aus der Währungsgemeinschaft 
reichen, kann nur Sache des politischen Ermessens sein. Es verwundert 
deshalb nicht, dass sich diesbezügliche Regeln weder dem Verfassungstext 
noch der Rechtsprechungstradition entnehmen lassen. 

Die Annahme, dass unter näher bestimmten Voraussetzungen nicht nur 
positiv-souveränitäts-beschränkende Akte deutscher Bundesorgane, sondern 
auch eine bloße Untätigkeit bei qualifizierten Übergriffen der Union 
unter Berufung auf Art. 38 Abs. 1 GG angegriffen werden können, weicht 
von erst jüngst bekräftigter Rechtsprechung ab, nach der ein Unterlassen 
von Bundestag oder Bundesregierung mit der Verfassungsbeschwerde nur 
gerügt werden kann, wenn sich der Beschwerdeführer auf einen 
ausdrücklichen Auftrag des Grundgesetzes berufen kann, der Inhalt und 
Umfang der als verletzt behaupteten Handlungspflicht im Wesentlichen 
umgrenzt. Auch für Anträge im Organstreitverfahren hat der Senat noch 
kürzlich festgestellt, dass sie nur gegen ein konkretes Unterlassen 
zulässig sind, das heißt gegen das Unterlassen einer konkreten als 
geboten darstellbaren Handlung. Die Annahme, dass unter anderem ein 
bloßes Unterlassen der Bundesregierung, sich auf der Ebene der Union in 
bestimmter Weise zu verhalten, zulässiger Gegenstand einer 
Verfassungsbeschwerde sein kann, stünde zudem in Gegensatz dazu, dass 
selbst positive Mitwirkungshandlungen der Bundesregierung an Beschlüssen 
von Organen der Union oder intergouvernementalen Beschlüssen in 
Angelegenheiten der Union noch vor kurzem zu untauglichen 
Angriffsgegenständen erklärt worden sind. 

Regelung zur Wahlberechtigung von Auslandsdeutschen verfassungswidrig
Sondervotum der Richterin Lübbe-Wolff: 
Der Senatsbeschluss weicht in überraschender und inhaltlich nicht 
überzeugender Weise von der bisherigen ständigen Rechtsprechung des 
Bundesverfassungsgerichts ab. 

Der Entwicklung von Mobilität und Kommunikationstechnik, in deren Folge 
die früheren Anknüpfungen des Wahlrechts an einen aktuell bestehenden 
oder nur wenige Jahre zurückliegenden mindestens dreimonatigen Wohnsitz 
oder gewöhnlichen Aufenthalt im Wahlgebiet an Plausibilität eingebüßt 
haben, hat der Gesetzgeber durch sukzessiven Abbau der 
Wahlrechtsbeschränkungen für Auslandsdeutsche Rechnung getragen. Die 
übriggebliebene Anforderung eines mindestens dreimonatigen Aufenthalts 
im Wahlgebiet, gleich wie lange er zurückliegt, mag zwar als alleiniges 
Kriterium für wahlrechtsrelevantes Kommunikationspotential wenig 
einleuchten. Darauf kommt es aber nicht an. Kommunikation ist für die 
Demokratie in der Tat essentiell. Was den Zusammenhang angeht, der durch 
demokratische Wahlen etabliert wird und etabliert werden soll, ist aber 
nicht der Kommunikationszusammenhang, sondern der 
Verantwortungszusammenhang der grundlegendere - ein 
Verantwortungszusammenhang der wirklichen, ernsten Art, in dem nicht nur 
Worte zu wechseln, sondern auch, von Wählern wie Gewählten, Konsequenzen 
des eigenen Entscheidungsverhaltens zu tragen sind. Je öfter und weiter 
formelle Zugehörigkeit - in Deutschland der Deutschenstatus gemäß Art. 
116 Abs. 1 GG - und materielle Betroffenheit von der Staatsgewalt 
auseinanderfallen, desto mehr entspricht es daher dem Sinn 
demokratischer Wahlen, die Wahlberechtigung nicht allein an die formelle 
Zugehörigkeit, sondern darüber hinaus daran zu knüpfen, dass die 
Wählenden mit ihrer Wahlentscheidung auf die politische Gestaltung 
eigener, nicht fremder, Lebensverhältnisse Einfluss nehmen. Die 
Rechtfertigung für die Dreimonatsregel liegt darin, dass sie das dazu 
notwendige Mindestmaß an realer Verbindung zur Bundesrepublik 
Deutschland wahren soll. In dieser Differenzierungsfunktion 
berücksichtigt die Dreimonatsregel einerseits, dass auch bei langjährig 
im Ausland wohnhaften Deutschen noch Bindungen an Deutschland gegeben 
sein können, die die deutsche res publica zu ihrer Sache machen. 
Andererseits verhindert sie, dass das Wahlrecht sich über die durch 
Abstammung vermittelte Staatsangehörigkeit auf Personen forterbt, bei 
denen die Ausübung des deutschen Wahlrechts nicht mehr ein Akt 
demokratischer Selbstbestimmung, sondern nur noch ein Akt der 
Mitbestimmung über Andere wäre. Damit ist zwischen gegenläufigen 
verfassungsrechtlichen Belangen ein vertretbarer Ausgleich gefunden. 

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