Wednesday, 11 July 2012

Fünf-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht verfassungswidrig


Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -

Pressemitteilung Nr. 70/2011 vom 9. November 2011

Urteil vom 9. November 2011
2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10

 

Fünf-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht verfassungswidrig
 
 

Leitsatz
zum Urteil des Zweiten Senats vom 9. November 2011
- 2 BvC 4/10 -
- 2 BvC 6/10 -
- 2 BvC 8/10 -
Der mit der Fünf-Prozent-Sperrklausel in § 2 Abs. 7 EuWG verbundene schwerwiegende Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien ist unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen nicht zu rechtfertigen.
 Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit seinem heute 
verkündeten Urteil entschieden, dass die bei der Europawahl 2009 (7. 
Wahlperiode) geltende Fünf-Prozent-Sperrklausel unter den gegenwärtigen 
Verhältnissen gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der 
Chancengleichheit der politischen Parteien verstößt, und daher die der 
Sperrklausel zugrunde liegende Vorschrift des § 2 Abs. 7 
Europawahlgesetz (EuWG) für nichtig erklärt. Demgegenüber hat der Senat 
die von einem Beschwerdeführer gerügte Verhältniswahl auf der Grundlage 
„starrer“ Listen nicht beanstandet. 

Die Verfassungswidrigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel führt jedoch 
nicht dazu, die Wahl zum Europäischen Parlament des Jahres 2009 für 
ungültig zu erklären und eine Neuwahl anzuordnen. 

Über den Sachverhalt, der den drei Wahlprüfungsbeschwerden zugrunde 
liegt, informiert die Pressemitteilung Nr. 23/2011 vom 29. März 2011. 
Sie kann auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts eingesehen 
werden. 

Die Entscheidung ist mit 5:3 Stimmen ergangen. Die Richter Di Fabio und 
Mellinghoff haben ein Sondervotum abgegeben. 

Das Urteil beruht im Wesentlichen auf folgenden Erwägungen:
 
1. Das Europawahlgesetz ist als deutsches Bundesrecht an den im 
Grundgesetz verankerten Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und 
Chancengleichheit der politischen Parteien zu messen. Der Grundsatz der 
Gleichheit der Wahl gebietet bei der Verhältniswahl, die auch für die 
Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments gilt, dass - über die 
Zählwertgleichheit hinaus - jeder Wähler mit seiner Stimme den gleichen 
Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Vertretung haben muss. 
Der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien verlangt, dass jeder 
Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten 
Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze 
eingeräumt werden. 

Die Fünf-Prozent-Sperrklausel bewirkt eine Ungleichgewichtung der 
Wählerstimmen hinsichtlich ihres Erfolgswerts, weil diejenigen 
Wählerstimmen, die für Parteien abgegeben worden sind, die an der 
Sperrklausel gescheitert sind, ohne Erfolg bleiben. Zugleich wird durch 
die Fünf-Prozent-Sperrklausel der Anspruch der politischen Parteien auf 
Chancengleichheit beeinträchtigt. 

Differenzierende Regelungen bei der Wahlrechtsgleichheit und 
Chancengleichheit der Parteien bedürfen stets eines besonderen, sachlich 
legitimierten, „zwingenden“ Grundes. Sie müssen zur Verfolgung ihrer 
Zwecke geeignet und erforderlich sein. 

Der Gesetzgeber hat eine die Wahlgleichheit und die Chancengleichheit 
berührende Regelung des Wahlrechts zu überprüfen und gegebenenfalls zu 
ändern, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch 
neue Entwicklungen in Frage gestellt wird. 

Für Differenzierungen verbleibt dem Gesetzgeber nur ein eng bemessener 
Spielraum. Die Ausgestaltung des Europawahlrechts unterliegt einer 
strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle, weil die Gefahr besteht, 
dass der deutsche Wahlgesetzgeber mit einer Mehrheit von Abgeordneten 
die Wahl eigener Parteien auf europäischer Ebene durch eine Sperrklausel 
und den hierdurch bewirkten Ausschluss kleinerer Parteien absichern 
könnte. Die allgemeine und abstrakte Behauptung, durch den Wegfall der 
Fünf-Prozent-Sperrklausel werde der Einzug kleinerer Parteien und 
Wählergemeinschaften in die Vertretungsorgane erleichtert und dadurch 
die Willensbildung in diesen Organen erschwert, kann den Eingriff in die 
Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit nicht 
rechtfertigen. Zur Rechtfertigung der Fünf-Prozent-Sperrklausel bedarf 
es vielmehr der mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartenden 
Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Vertretungsorgane. 

2. Nach diesen Maßstäben durfte die Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht 
beibehalten werden. Die bei der Europawahl 2009 gegebenen und 
fortbestehenden tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse bieten keine 
hinreichenden Gründe, die den mit der Sperrklausel verbundenen 
schwerwiegenden Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und 
der Chancengleichheit der politischen Parteien rechtfertigen. 

Die Einschätzung des Gesetzgebers, dass das Europäische Parlament mit 
dem Wegfall der Fünf-Prozent-Sperrklausel in seiner Funktionsfähigkeit 
beeinträchtigt werde, kann sich nicht auf ausreichende tatsächliche 
Grundlagen stützen und trägt den spezifischen Arbeitsbedingungen des 
Europäischen Parlaments sowie seiner Aufgabenstellung nicht angemessen 
Rechnung. Zwar ist zu erwarten, dass ohne Sperrklausel in Deutschland - 
sowie unter Berücksichtigung einer möglichen Beseitigung von 
Zugangsbeschränkungen in anderen Mitgliedstaaten - die Zahl der nur mit 
einem oder zwei Abgeordneten im Europäischen Parlament vertretenen 
Parteien zunimmt und es sich dabei auch nicht um eine zu 
vernachlässigende Größenordnung handelt. Ohne Sperrklausel in 
Deutschland wären statt aktuell 162 dann 169 Parteien im Europäischen 
Parlament vertreten. Es ist jedoch nicht erkennbar, dass dadurch die 
Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments mit der erforderlichen 
Wahrscheinlichkeit beeinträchtigt würde. Zentrale Arbeitseinheiten des 
Europäischen Parlaments sind die Fraktionen, die über eine erhebliche 
Integrationskraft verfügen und es über die Jahre hinweg vermocht haben, 
namentlich die im Zuge der Erweiterungen der Europäischen Union 
hinzutretenden Parteien trotz der großen Bandbreite der verschiedenen 
politischen Strömungen zu integrieren. Nach diesen Erfahrungen ist 
jedenfalls grundsätzlich davon auszugehen, dass auch weitere 
Kleinparteien, die beim Fortfall der Sperrklauseln im Europäischen 
Parlament vertreten wären, sich den bestehenden Fraktionen anschließen 
können. 

Gleiches gilt für die Fähigkeit der Fraktionen, durch Absprachen in 
angemessener Zeit zu Mehrheitsentscheidungen zu kommen. Die 
„etablierten“ Fraktionen im Europäischen Parlament haben sich in der 
parlamentarischen Praxis kooperationsbereit gezeigt und sind in der 
Lage, die erforderlichen Abstimmungsmehrheiten zu organisieren. Es ist 
nicht ersichtlich, dass bei Wegfall der Fünf-Prozent-Sperrklausel mit 
Abgeordneten kleiner Parteien in einer Größenordnung zu rechnen wäre, 
die es den vorhandenen politischen Gruppierungen im Europäischen 
Parlament unmöglich machen würde, in einem geordneten parlamentarischen 
Prozess zu Entscheidungen zu kommen. Schließlich zeigt die Entwicklung 
des Europäischen Parlaments, dass entsprechende Anpassungen der 
parlamentarischen Arbeit an veränderte Gegebenheiten wie etwa eine 
Zunahme der Zahl fraktionsloser Abgeordneter zu erwarten sind. 

Zwar ist von den in der mündlichen Verhandlung gehörten Sachkundigen und 
Abgeordneten des Europäischen Parlaments übereinstimmend die Erwartung 
geäußert worden, dass mit dem Einzug weiterer Kleinparteien in das 
Europäische Parlament die Mehrheitsgewinnung erschwert werde. Damit 
allein ist jedoch noch keine hinreichend wahrscheinlich zu erwartende 
Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments 
dargelegt. 

Des Weiteren sind die Aufgaben des Europäischen Parlaments durch die 
europäischen Verträge so ausgestaltet, dass es an zwingenden Gründen, in 
die Wahl- und Chancengleichheit einzugreifen, fehlt. Eine - bei der Wahl 
zum Deutschen Bundestag - vergleichbare Interessenlage besteht auf 
europäischer Ebene nach den europäischen Verträgen nicht. Das 
Europäische Parlament wählt keine Unionsregierung, die auf seine 
fortlaufende Unterstützung angewiesen wäre. Ebenso wenig ist die 
Gesetzgebung der Union von einer gleichbleibenden Mehrheit im 
Europäischen Parlament abhängig, die von einer stabilen Koalition 
bestimmter Fraktionen gebildet würde und der eine Opposition 
gegenüberstünde. Zudem ist die unionale Gesetzgebung nach dem 
Primärrecht so konzipiert, dass sie nicht von bestimmten 
Mehrheitsverhältnissen im Europäischen Parlament abhängig ist. 

3. Die gegen die Wahl nach „starren“ Listen erhobene Rüge greift dagegen 
nicht durch. Nach dem Unionsrecht bleibt es den Mitgliedstaaten 
vorbehalten, sich entweder für eine Wahl mit gebundenen - durch den 
Wähler nicht veränderbaren - Listen oder für offene - die Möglichkeit 
der Veränderung der Reihenfolge der Wahlbewerber auf den Wahlvorschlägen 
gewährende - Listen zu entscheiden. Das Bundesverfassungsgericht hat 
bereits für nationale Wahlen wiederholt festgestellt, dass die Wahl nach 
„starren“ Listen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Neue 
Argumente, die für die Europawahl Anlass zu einer anderen Beurteilung 
geben könnten, sind nicht vorgetragen worden. 

4. Die Verfassungswidrigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel hat die 
Nichtigerklärung der sie regelnden Bestimmung des § 2 Abs. 7 EuWG zur 
Folge. Der Wahlfehler führt jedoch nicht dazu, die Wahl zum Europäischen 
Parlament des Jahres 2009 in Deutschland für ungültig zu erklären und 
eine erneute Wahl anzuordnen. Denn im Rahmen der gebotenen Abwägung ist 
dem Bestandsschutz der im Vertrauen auf die Verfassungsmäßigkeit des 
Europawahlgesetzes zusammengesetzten Volksvertretung Vorrang gegenüber 
der Durchsetzung des festgestellten Wahlfehlers einzuräumen. Eine 
Neuwahl in Deutschland wirkte sich störend und mit nicht abschätzbaren 
Folgen auf die laufende Arbeit des Europäischen Parlaments aus, 
insbesondere auf die Zusammenarbeit der Abgeordneten in den Fraktionen 
und Ausschüssen. Demgegenüber ist der Wahlfehler nicht als 
„unerträglich“ anzusehen. Er betrifft nur einen geringen Anteil der 
Abgeordneten des deutschen Kontingents und stellt die Legitimation der 
deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments in ihrer Gesamtheit 
nicht in Frage. 

Sondervotum der Richter Di Fabio und Mellinghoff: 

Die Richter Di Fabio und Mellinghoff tragen die Entscheidung in Ergebnis 
und Begründung nicht mit. Sie sind der Auffassung, dass die 
Senatsmehrheit durch eine zu formelhafte Anlegung der Prüfungsmaßstäbe 
den Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit 
politischer Parteien nicht überzeugend gewichte. Der Senat ziehe den 
Gestaltungsspielraum des Wahlgesetzgebers zu eng und nehme eine mögliche 
Funktionsbeeinträchtigung des Europaparlaments trotz dessen gewachsener 
politischer Verantwortung in Kauf. 

Die Fünf-Prozent-Sperrklausel sei keine bereits dem Grunde nach 
verbotene Differenzierung. Sie stelle vielmehr eine ergänzende Regelung 
zum Verhältniswahlrecht dar. Das Verhältniswahlsystem mit der 
Annexbedingung einer Fünf-Prozent-Sperrklausel sei aus Sicht der 
Erfolgswertgleichheit weitaus weniger einschneidend als ein - vom 
Grundgesetz ebenfalls erlaubtes - einstufiges Mehrheitswahlsystem, 
welches dazu führen könne, dass sogar mehr als 50% der im Wahlkreis 
abgegebenen Stimmen ohne jede Mandatswirkung blieben. Die Wahlgrundsätze 
aus Art. 38 GG nötigten nicht zur Ausgestaltung eines reinen 
Wahlsystems, sondern ließen Modifikationen und Mischungen zu. Die 
verfassungsgerichtliche Prüfung dürfe kein einzelnes Element eines 
Wahlsystems herausgreifen und daran strenge Gleichheitsanforderungen 
richten. Wahlrechtsfragen seien der politischen Gestaltung des 
Gesetzgebers unterworfen, dessen Regelungsauftrag angesichts der 
Allgemeinheit der Wahlgrundsätze dem Bundesverfassungsgericht 
Zurückhaltung auferlege. 

Die Fünf-Prozent-Sperrklausel sei sachlich gerechtfertigt, um für das 
deutsche Kontingent eine zu weitgehende Zersplitterung der im 
Europaparlament vertretenen politischen Parteien zu verhindern. Dabei 
trage Deutschland zusammen mit den anderen Mitgliedstaaten insgesamt 
Verantwortung für die Funktionsfähigkeit des Europaparlaments. Gerade 
die Staaten mit größeren Mandatskontingenten leisteten in ihrem 
Gestaltungsrahmen durchaus Beiträge gegen eine weitere Zergliederung des 
Europaparlaments. Neben Sperrklauseln enthielten die Wahlsysteme in den 
Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch wahltechnische 
Ausgestaltungen, die ohnehin zu Differenzen in der Erfolgswertgleichheit 
führten. Mit der isolierten Aufhebung der deutschen 
Fünf-Prozent-Sperrklausel durch den Senat werde daher im europäischen 
Umfeld ein Sonderweg beschritten. Der Differenzierungsgrund der 
Funktionsbeeinträchtigung des Parlaments werde durch den Senat letztlich 
auf eine Funktionsunfähigkeit begrenzt, ohne dass die Rechtsprechung des 
Bundesverfassungsgerichts hierfür eine Grundlage biete. Ein sachlicher 
Grund für die Rechtfertigung der Fünf-Prozent-Sperrklausel bestehe 
bereits in der Verringerung möglicher Funktionsbeeinträchtigungen des 
Europaparlaments und liege nicht erst dann vor, wenn dessen künftige 
Handlungsunfähigkeit zu erwarten sei. 

Der Umstand, dass es dem Europaparlament bisher - unter Bedingungen 
großer Heterogenität - gelungen sei, eine mehrheitsfähige Willensbildung 
herbeizuführen, könne kein Argument dafür sein, dass die Verhinderung 
einer zusätzlichen parlamentarischen Zergliederung die Sperrklausel 
nicht rechtfertigen könne. Jede weitere politische Fragmentierung erhöhe 
den zeitlichen und personellen Aufwand, Konsens herbeizuführen und 
verkleinere größere politische Richtungen mit Wiedererkennungswert für 
die Wähler. Dem Gesetzgeber müsse, gerade vor dem Hintergrund, dass sich 
das Europaparlament nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon in 
einer neuen Phase seiner Entwicklung befinde, ein Spielraum für die 
Beurteilung von Funktionsrisiken zugebilligt werden. 

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