Monday, 10 January 2011

Nachträge zur Lehre von den täglichen Tod


“Auf jeder Stufe, welche die Erkenntniß beleuchtet, erscheint sich der Wille als Individuum. Im unendlichen Raum und unendlicher Zeit findet das menschliche Individuum sich als endliche, folglich als seine gegen Jene verschwindende Größe, in sie hineingeworfen und hat, wegen ihrer Unbegränztheit, immer nur ein relatives, nie ein absolutes Wann und Wo seines Daseyns: denn sein Ort und seine Dauer sind endliche Theile eines Unendlichen und Gränzenlosen. – Sein eigentliches Daseyn ist nur in der Gegenwart, deren ungehemmte Flucht in die Vergangenheit ein steter Uebergang in den Tod, ein stetes Sterben ist; da sein vergangenes Leben, abgesehn von dessen etwanigen Folgen für die Gegenwart, wie auch von dem Zeugniß über seinen Willen, das darin abgedrückt ist, schon völlig abgethan, gestorben und nichts mehr ist; daher auch es ihm vernünftigerweise gleichgültig seyn muß, ob der Inhalt jener Vergangenheit Quaalen oder Genüsse waren. Die Gegenwart aber wird beständig unter seinen Händenzur Vergangenheit: die Zukunft ist ganz ungewiß und immer kurz. So ist sein Daseyn, schon von der formellen Seite allein betrachtet, ein stetes Hinstürzen der Gegenwart in di todte Vergangenheit, ein stetes Sterben. Sehn wire s nun aber auch von der Physischen Seite an; so ist offenbar, daß wie bekanntlich unser Gehn nur ein stets gehemmtes Fallen ist, das Leben unsers Leibes nur ein fortdauernd gehemmtes Sterben, ein immer aufgeschobener Tod ist[1]


[1] SCHOPENHAUER, Arthur. Die Welt als Wille und Vorstellung I – Viertes Buch - § 57. Zürich: Diogenes Verlag, 2007. 389p.

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